Interview im Rahmen einer Buchveröffentlichung mit Divo Müller: Fasziales Beckenbodentraining
Frage an Divo Müller: Was fasziniert Sie besonders am Beckenboden?
Der Beckenboden ist ein Ort der Kraft und Verletzlichkeit zugleich. Dieses myofasziale Netzwerk ist für unterschiedliche Aufgaben zuständig und vereint große Gegensätze. So kann ein gesunder Beckenboden öffnen und
schließen, halten
und
loslassen.
Bei der Geburt dehnen die Fasern sich um das Vielfache aus und geben dem Baby den Weg in die Welt frei.
Spannend finde ich, dass die Yogis seit Jahrhunderten um die besondere Bedeutung des Beckenbodens wussten.
Mula Bandha bezeichnet ein wichtiges Energiezentrum, das Wurzelchakra. Die Anatomie gibt den großen Meistern jedenfalls Recht. Speziell im Damm, dem Perineum, bündeln sich die Fasern aus allen Beckenbodenschichten und verweben sich zu einer kräftigen, kollagenen Zentralsehne. Auch strukturell ist der Damm ein echter Kraftplatz.
Warum führt ein rein muskuläres Beckenbodentraining häufig nicht zum Erfolg?
Seit einigen Jahren haben die Bewegungswissenschaften die Bedeutung des muskulären Beckenbodens für die Rumpfstabilität und Rückenstärke belegt. Bekannt ist auch dass dieser zum Beispiel nach einer Prostata OP oder einer Geburt behutsam wieder aufgebaut werden muss. Bislang war das Training jedoch vorwiegend muskulär statisch ausgerichtet, und die faszialen Strukturen, die eine maßgebliche Rolle für die widerstandsfähige Spannkraft des Beckenbodens spielen, wurden fast gänzlich vergessen. So wie im übrigen Körper auch ist jede einzelne Muskelschicht im Beckenboden in eine fasziale Hülle verpackt. Die einzelnen Muskelschichten wiederum sind im gesunden Beckenboden über lockeres Bindegewebes gleitfähig untereinander verbunden. Im Älterwerden oder durch Bewegungsmangel verändert sich die Struktur der Kollagenfasern jedoch. Diese werden spröde, verkleben miteinander, verfilzen und verlieren dadurch an Spannkraft. Statt eines straff gespannten inneren Trampolins, das Belastungen kraftvoll und elastisch abfedert, wird der Beckenboden im Laufe der Zeit zur ausgeleierten und spröden Hängematte. Muskeltraining hilft hier nur bedingt weiter, denn die Faszien benötigen spezifische Trainingsreize, um ihre Sprungfeder-ähnlichen Fähigkeiten zurückzugewinnen.
Ist es möglich den Beckenboden zu sehr zu trainieren? Welche Auswirkungen hat dies?
Der Beckenboden kann durchaus aus dem Lot geraten, wenn er über lange Zeit vorwiegend muskulär kontrahiert wird. Er wird dann möglicherweise zu fest und unbeweglich. Für willkürliche Daueranspannung ist diese Struktur einfach nicht konzipiert, auch die allgemein bekannte Anweisung „Anspannen und Aufzugfahren“ ist schlichtweg veraltet. Das dass sensible neuromuskuläre Gleichgewicht aus dem Takt gerät und der Beckenboden seine Fähigkeit verliert unter Belastung reflektorisch, also unwillkürlich, anzuspannen. Häufig wird im Training vernachlässigt das Loslassen, Nachgeben und feine Wahrnehmen gleichermaßen zu pflegen. Zudem ist es notwendig die konstitutionell unterschiedlichen Bindegewebetypen zu kennen.
Gibt es Gewohnheiten die besonders schwächend für den Beckenboden sind?
Grundsätzlich ist regloses Sitzen auf Sitzmöbeln, noch dazu mit rundem Rücken, wodurch die Bauchorgane haltlos auf den Beckenboden drücken, schlichtweg schädlich. Der Beckenboden ist für dynamische Belastungen angelegt. Bewegungsarmut und einseitige Dauerbelastung nehmen uns die kollagenen Gewebe besonders übel.
Artgerechte Beckenboden-Haltungen hingegen wäre zum Beispiel ein regelmäßiges Sitzen auf dem Boden, bei dem immer mal wieder unterschiedliche Schneidersitzpositionen oder die asiatische Hocke eingenommen werden, so wie die Inderinnen es am Straßenrand noch tun.
Was zeichnet ein modernes fasziales Beckenbodentraining aus?
Der deutlichste Unterschied zum konstitutionellen Training liegt in der federnden Dynamik. Weg von statischen Haltepositionen und hin zu abwechslungsreichen Belastungen um die elastische Widerstandskraft der Beckenbodenfaszien zu steigern. Um das zu erreichen setzen wir im faszialen Beckenbodentraining gezielt das Federn, Wippen und Springen ein und laden die Sprungfeder-Kapazität der Faszien gezielt auf. Dafür haben wir ein Übungsprogramm entwickelt bei dem wir zusätzlich bestimmte Atemlaute nutzen. Hierbei wird über die Spannung des Zwerchfells und den „Powersound“ das körpereigene, kollagene „Beckenboden-Trampolin“ stimuliert.
Ein willkommener Nebeneffekt: die Übungen sind kraftvoll, machen Spaß und sind ein Gute-Laune-Programm.
Welche Rolle spielt die Sensorik bei einem modernen Beckenbodentraining?
Das Wahrnehmen, Spüren oder innere Erleben ist eine Grundvoraussetzung um den verborgenen „Schatz im Schoß“ zu bergen. Der Beckenboden bildet anatomisch eher einen Trichter oder bildhaft ausgedrückt einen inneren Kelch.
Das Wort „ Boden“ kann für das Training irreführend sein, denn es handelt sich nicht um eine horizontale Matte, die den Beckenausgang abdichtet. Aus diesem Grund ist das erlebte Verständnis des Beckenbodens als dreidimensionales Netzwerk wesentlich, um einmal die stabilisierende Kraft abzurufen, aber auch die feinen Energien für eine erfüllte Sexualität zu entdecken.